Sonntag, 20.07.2025 20:39 Uhr

Julia Franck: Die Mittagsfrau - Buch und Film

Verantwortlicher Autor: Gerhard Bachleitner München, 30.06.2025, 22:03 Uhr
Presse-Ressort von: Dr. Gerhard Bachleitner Bericht 3349x gelesen
Die Mittagshexe aus dem Märchen
Die Mittagshexe aus dem Märchen  Bild: G. Bachleitner nach einer Vorlage von Copilot

München [ENA] Anmerkungen zu Julia Franck: »Die Mittagsfrau«. S. Fischer Verlag, Ffm, 2007 und des Films Die Mittagsfrau (D 2023, Regie: Barbara Albert) anläßlich von dessen Erstausstrahlung im Fernsehen Dieses Stück Frauenliteratur wirkt wie eine Auftragsarbeit für den Zeitgeist -

vielleicht auch als Nachwirkung der "antifaschistischen" DDR-Kulturpolitik, und dementsprechend wurden Buch und Film vom Zeitgeist auch beflissen prämiiert. Alle einschlägigen Themen sind versammelt: zwei Weltkriege, Inflation, Nazi-Zeit, jüdische Diskriminierung einschl. geraunter Euthanasie, Sterilisation, kriegsbedingte Vergewaltigung, Vertreibung, Frauenemanzipation, Drogenmißbrauch, Abtreibung, lesbische Deviation. Das vermeintlich historische Panorama der Erzählung ist also an vielen Stellen verzerrt und denunziatorisch verschoben.

Die fast ausschließlich weibliche Perspektive reduziert die Männer auf eine marginalisierte, bestenfalls irrelevante, meistenteils störende oder destruktive Spezies. Stets ist der Blick auf sie negativ, mit Ausnahme der peinlich idealisierten Lichtgestalt Carl. Schon die Horizontbegrenzung auf den weiblichen Erfahrungsraum, die Familie und die verwandtschaftlichen Verbindungen, kann als Einseitigkeit gelten, die den nichtweiblichen Leser des Interesses enthebt, um so mehr die Jagd nach Gleichstellung im Bildungssystem und einer bildungsentsprechenden Ehe.

Schon Helenes Vater wird als Versager gekennzeichnet, der zwar im Krieg invalide wurde, aber nicht heroisch, sondern stümperhaft-ungeschickt, und der neben seiner herrischen jüdischen Gattin Selma kläglich zugrunde geht. Der erste Heiratsaspirant der älteren Schwester Martha, Arthur, wird als lächerliche Figur dargestellt, ist für den Krieg untauglich, wird von Martha alsbald abserviert und von Helene in den Finger gebissen. Vaters Freund Grumbach ist ein aufdringlicher Schmarotzer, der sich sogar zu einem Heiratsantrag an Helene versteigt.

Mit der Übergriffigkeit von Helenes Chefarzt vor ihrer Übersiedelung nach Berlin ist dann das Niveau einer Seifenoper erreicht. Vielleicht soll auch schon im Vorfeld moralische Absolution für die in Berlin folgenden hedonistischen Exzesse eingeholt werden. Männer im Kollektiv erscheinen stereotyp als lüsterne Menge, gleich ob sie Martha in Bautzen auflauern oder den Schwestern bei der Ankunft in Berlin auf Tante Fannys Party gegenübertreten. Dem ersten Verehrer, dem Maler Baron, wird zunächst die fehlende Übergriffigkeit - "musste er bloß seine Hand ausstrecken" - und gleich darauf der männertypische Voyeurismus vorgehalten. Und Erich, ebenfalls aus Fannys Entourage, ist die personifizierte Übergriffigkeit.

Ein Kritiker monierte angesichts dieser Tableaux zurecht, "Franck erzähle in Drehbuchmanier Szenen in „Kulissen der Zwanzigerjahre“, die man alle schon einmal gelesen habe". Notabene wird die besagte Party und das sich anschließende Lotterleben in der Großstadt mit aufdringlicher Penetranz inszeniert und der dekadente Hedonismus dieser verantwortungslosen Gesellschaftsschicht nur schwach durch Helenes verbliebene Redlichkeit kompensiert. Martha jedenfalls verfällt ihrer Morphiumsucht, und Fanny, die schon länger auf Kokain ist, hält sich eine Horde jüngerer Liebhaber, die zu arbeiten nicht nötig haben.

Daß Helene ihr von Carl empfangenes Kind abtreiben läßt, wirkt mit der Begründung, es störe ihr Studium, aus heutiger Sicht vielleicht akzeptabel, ist aber in der damaligen Zeit eine Luxusattitüde der Begüterten und angesichts von Carls reichen Eltern sachlich keineswegs gerechtfertigt. Franck geht über diesen gravierenden Eingriff achtlos-desinteressiert hinweg. Die richtigen Proportionen hingegen kann man in Annie Ernaux' Buch Das Ereignis nachlesen, wo die Autorin das Drama mindestens 20 Jahre später ein ganzes Buch lang durchleidet und erst weitere Jahrzehnte später darüber schreiben kann.

Die plakative Kontrastierung der beiden Männer in Helenes Bett kann man also nicht ernst nehmen. Einem Philosophiestudenten aus wohlhabendem jüdischen Großbürgertum die humanistische Bildung zu Gute und dem Ingenieur deren Fehlen vorzuhalten, ist einigermaßen unterkomplex, um nicht zu sagen töricht. Neuerdings wurde eine ähnliche Idealisierungskonstellation mit gespenstischem Erfolg als Buch und Serie wiederverwendet, Maxton Hall von Mona Kasten. Auch dort erliegt die aus bescheidenen Verhältnissen stammende Studentin dem großbürgerlich situierten Märchenprinzen. Dabei hätte man das Zeitalter Aschenputtels schon für beendet gehalten.

Daß Franck ausgerechnet die fehlende Jungfräulichkeit zur Sollbruchstelle der Ehe mit Wilhelm macht, mutet anachronistisch an, wurde dies doch schon im 18. Jhdt. mit Emilia Galotti und im 19. mit Hebbels Maria Magdalena hinlänglich abgehandelt. Carls Idealisierung ist aufdringlich und die hochtrabenden Gespräche bis hin zur Bettlektüre Spinozas aufgedonnert. Da hätte man doch vielleicht besser in Goethes Römische Elegien (Nr.5) geschaut, wo der Dichter seiner Faustina den Hexameter auf den Rücken zählt und keine papierenen Philosopheme zwischen sich und den Leib stellt.

Daß die Autorin dieses bemühte Glück rasch aus dem Weg räumen muß, um die Kurve zum später deformierten Mutterverhalten ihrer Protagonistin nicht zu verpassen, versteht sich. Die Anbahnung der Ehe mit dem Ekel Wilhelm kann man als unfreiwillige Studie zur weiblichen Ambivalenz lesen. Franck plaziert fortwährend Antipathiesignale Helenes und bugsiert sie gleichzeitig in diese Ehe, um sie dort zum Opfer machen zu können. Diese zweite Hälfte des Romans ist dann nur noch ärgerlich zu lesen. Hochzeit und Hochzeitsnacht sind qualvoll. Helene ist das, was man auf Bairisch eine Zwiderwurzn nennt. Franck läßt bei der Schilderung der Kohabitation auch keine Peinlichkeit aus.

Franck häuft noch weitere Absurditäten auf diese Ehe. Nach jedem Geschlechtsverkehr wäscht sie sich, um möglichst nicht schwanger zu werden, und als sie es wird, geht ihr erster Gedanke wieder zur Abtreibung. Dafür gibt es jedoch keinen Grund mehr, schon gar nicht denjenigen, der ihre erste Abtreibung motiviert hat: die Unvereinbarkeit von Schule/Studium und Mutterschaft. Im Gegenteil ist Mutterschaft - auch aus religiöser Perspektive - ein wesentlicher Teil der Ehe. Daß diese Ehe hier zeitüblich eine Versorgungsehe ist, wollen Franck und Helene einfach nicht wahrhaben.

Franck schickt Helene gewissermaßen als Protagonistin heutiger Eman¬zipationsansprüche in die Zwischenkriegszeit und denunziert damit die damalige Zeit - was natürlich ahistorisch und völlig nutzlos ist und nur der heutigen moralischen Selbstgerechtigkeit dient. Daß sich Wilhelm über den Nachwuchs zunächst freut, hätte der Ehe eine gute Wendung verleihen können, denn die Sorge für das Kind hätte Helenes Leben einen neuen Akzent gegeben und das Verhältnis der Eheleute entspannen können.

Doch dann erfindet Franck einen destruktiven Affekt Wilhelms, das Kind entweder einem Seitensprung - für den es keinerlei Indiz und Anlaß gibt - oder ihrer ethnischen Herkunft zuzurechnen und insofern abzulehnen. Auch dies ist unsinnig, denn er wußte ja schon vorher von ihrer Abkunft. * Nicht zu übersehen ist, daß Helene unbewußt Charakter und Verhalten ihrer unempathischen Mutter Selma übernimmt. Diese familienpsychologische Konstellation ist unabhängig vom historischen Umfeld, aber daß die Mutter dann doch wieder mit der gängigen historischen Schablone zum Opfer (der Euthanasie) stilisiert wird, hinterläßt einen schalen Nachgeschmack.

Ganz offen, geradezu plakativ tendenziös wird die Parallelität der Versorgungsehe zwischen Leontine und ihrem Gatten Lorenz und derjenigen zwischen Wilhelm und Helene behandelt. Während sie schamlos gutgeheißen wird, wenn die Frau die Gewinnerin und der Mann der an der Nase herumgeführte eingebildete und dumme Tropf ist, wird zum Verbrechen stilisiert, wenn der Mann zeitübliche Ansprüche und Rollenerwartungen einfordert und die Frau als Verliererin dargestellt werden kann. D.h. das zeitübliche und auch noch nachkriegsübliche Geschlechterverhältnis wird - in der Person Wilhelms - direkt als nazistisch eingestuft.

Dies soll wohl auch rechtfertigen/erklären, weshalb Helene ihren Sohn auf ihrer Flucht nach Westen 1945 alleinläßt. Er ist das Kind des abgelehnten Gatten, das sie ihrerseits ablehnt. Und sie selbst war von ihrer Mutter abgelehnt worden, weil dieser vier geliebte Söhne weggestorben waren. Hier sieht man den familiären Wiederholungszwang in Vollendung am Werke. Und Franck ist ihrerseits vom Wiederholungszwang befallen und unterstellt Helenes Schwiegermutter in spe, also der Wertheimerin, ebenfalls Trauer um zwei verlorene Söhne.

Franck potenziert in der Ehe gewissermaßen die Ablehnungsmechanik. Wilhelm kümmert sich nicht um seinen Sohn, weil er ihn für "ihr Kind" hält, und sie kümmert sich nicht darum, weil sie ihn für "sein Kind" hält. Daß Wilhelm bald kaum noch zuhause erscheint, ist Helene nur recht, weil es dem heutigen heimlichen Ideal des Feminismus entspricht, der Familie ohne Mann, also der alleinerziehenden Mutter (ohne Rücksicht auf die psychosozialen Schäden beim Kind). Es gäbe von dieser Ehe auch nichts mehr zu erzählen, weil die Fronten und Zuständigkeiten klar sind.

Hier könnte man auch einen Ansatzpunkt für die titelgebende Mittagsfrau vermuten. Zwar wird sie zunächst mit Selma und ihrer Gefühlskälte in Verbindung gebracht, doch im Laufe der Zeit nimmt die Tochter ähnliche Eigenschaften an. Auch diese Mittagsfrau dient noch tendenziösem, euphemistischem Feminismus. Das damit gemeinte slawische Märchen ist, wie die meisten Märchen, grausam und kann als weibliches Gegenstück zum Erlkönig verstanden werden. Am Ende ist das Kind tot. Als Dvorak das Märchen nach dem Gedicht von K. Erben in einer symphonischen Dichtung vertonte, hieß es selbstverständlich und so, wie es gemeint ist, "Die Mittagshexe". Eine Verharmlosung zur Mittagsfrau ist also keineswegs angebracht.

Zugute halten kann man dem Werk eine vergleichsweise konkrete Erzählhaltung, die psychologisches Räsonnieren zu vermeiden versucht, allerdings auch mit einer nicht selten ermüdenden Fülle narrativer Details in einer angestrengten Sprache einhergeht. Franck entwickelt die Figuren scheinbar aus ihren Handlungen. Die (anklagende) Botschaft steckt sie jedoch, wie gezeigt, in die Handlungskonstellationen und in sympathielenkende Reflexionen, was die Sache nicht viel besser macht, sondern nur den Anschein der Objektivität erweckt.

Die Interpretation im Film

Der Film läßt schon aus Zeitgründen viele störende Handlungsstränge und Personen sowie die auktorialen Handlungsinterpretationen weg und vermindert dadurch die ideologische Last. Die Hinwendung zur konkreten Materialität des Lebens wirkt sich positiv aus. Eine lichtverliebte Kamera, ein hervorragendes Schauspielerensemble, eine zurückhaltende Musik tragen zu einem stimmigen Gesamtergebnis bei. Subtil wird aber auch hier Stimmung gemacht. Der überzeugend drastische Wahnsinn Selmas wird durch ihre wütende Bücherverbrennung im Garten unterstrichen. Das ist dem entsprechenden Motiv im Buch geradezu entgegengesetzt, soll aber selbstverständlich an die 1933 bevorstehende Bücherverbrennung erinnern.

Fannys Party wirkt wie das Ergebnis des Regiekommandos: jetzt seid mal richtig verrucht. Selbstverständlich wird das, was man damals Sodomie genannt hat, ausgestellt. Es bleibt aber eine theatertypische Verruchtheit, etwa, wie wenn auf der Opernbühne der Venusberg im Tannhäuser oder Klingsors Zauberschloß im Parsifal inszeniert wird. Die Bekanntschaft Carls mit Helene und die im Buch mehr als drei Jahre währende Beziehung wird sehr geschickt verkürzt.

Ihre Bekanntschaft mit Wilhelm wird elegant im Krankenhaus herbeigeführt, wo er auch zwanglos und sympathisch als leidender Mensch eingeführt werden kann. Daß Albert es bei der Hochzeit in Strömen regnen läßt, während im Buch eine Schiffahrt unternommen wird, ist wieder etwas zu aufdringlich. Und stumpfe Blasmusik muß die kulturelle Unterlegenheit der einheimischen Deutschen gegenüber der jiddischen Exotik demonstrieren.

Helenes Fahrt zu Peter auf dem Bauernhof 1956 wird durch goldenen Sommer verklärt, während Franck dafür trüben November für angemessen hält. Der Film verweigert dem Zuschauer die Wiederbegegnung von Mutter und Sohn nicht und setzt sich damit gewaltsam über die Vorlage hinweg. Das Bedürfnis danach kann man nachfühlen, wird man dem Drehbuch auch nicht vorwerfen wollen. Aber gerechterweise muß man der strengen Lesart des Buches den Vorrang lassen.

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