Von der Wiege bis zur Bahre - Avatare, Avatare
München [ENA] Was früher nur Datenspuren waren, dann ein Datenschatten, ist mittlerweile zu einem digitalen Zwilling des Menschen herangewachsen, und er begleitet ihn durch alle Lebensphasen. "Digitaler Zwilling – Mensch über die Lebensphasen" war die Idee zu einer so betitelten Fachtagung des Münchner Kreises.
Die technische Entwicklung ist also mittlerweile so weit fortgeschritten, daß man gewissermaßen einen anthropologischen Blick auf die allumfassenden Tendenzen der Digitalisierung und ihrer aktuellen Speerspitze KI werfen kann. Der menschliche Lebensweg wird vor dem Hintergrund dieser Mensch-Maschine-Interaktion betrachtet oder neu entworfen. Mit Blick auf die Namensgebung für GPT könnte man auch sagen, daß der Mensch, wenn er sich mit einem Generativen, vorgebildeten (Pretrained) Transformer einläßt, unvermeidlich auch selbst transformiert wird.
Dabei kommt sehr bald die Frage auf, ob und welche Begleitung der Mensch durch seinen digitalen Zwilling akzeptieren will, oder ob ihm diese Begleitung einfach aufgezwungen wird. Wie freiwillig wird der digitale Doppelgänger zum eigenen (eigentlichen?) Leben hinzugenommen? Wie kurz ist der Weg von der Adaption zur Adoption, von der Anpassung an das zu verwendende Werkzeug bis zum lebensbegleitenden Adlatus oder einem mißgünstigen Überwacher und Denunzianten? Wie kurz ist der Weg von einem instrumentierten zu einem kuratierten oder administrierten Leben?
Schule: deep learning oder hierarchische Bildungskarrieren?
Tatsächlich zogen die Referate der Konferenz meist die Perspektive von Institutionen und Firmen auf den Einzelnen heran, während die umgekehrte Perspektive, die Formulierung individueller Bedürfnisse gegenüber ebendiesen externen Akteuren, kaum eine Rolle spielte. In der frühesten Lebensphase, der Kindheit, ist dies auch gar nicht anders möglich, weil die werdende Person noch lange Gegenstand von Pädagogik und Didaktik sein muß.
Hier zeigten Prof. Dr. Uta Hauck-Thum, LMU München, Grundschulpädagogik, und Antje Radetzky, Berufswissenschaft im Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV), für den Bereich der Grundschule erhebliche Defizite des Schulsystems auf, die allerdings nur zu einem Teil auf die ungeschickte Adaption der Technik durch die Kultusbürokratie zurückzuführen sind. Viele Probleme der heutigen Schule seien Folge langjähriger Versäumnisse und bekanntermaßen mangelnder Flexibilität. Das blamable Ergebnis der letzten Pisa-Studie macht diese Krise unübersehbar.
Einen recht speziellen Sektor des Bildungssystems, den Religionsunterricht in Mittel- und Oberstufe, illustrierte Vladimir Puhalac, XR-Human, wo XR as a service angeboten wird. Eine seiner Auftragsarbeiten war der Luther-Avatar für die evangelische Kirche, und was wir da zu sehen bekamen, bestätigte nur die Skepsis gegenüber der Zukunftsfähigkeit herrschender Institutionen. Gemessen am aktuellen Stand von Portraitgenerierung für Kinofilme und Deepfakes liegt dieser Luther viele Jahre zurück.
Als Handlungsraum fiel den Auftraggebern, die mit der Kreatur wohl den Religionsunterricht "modernisieren" wollten, nichts besseres als ein Klassenzimmer mit Frontalunterricht ein, in dem man den Reformator hinter einem Katheder dozieren läßt. Zumindest war dies bei einer Präsentation auf einer Didaktik-Messe so. Für die Allgemeinheit war er lediglich für eine Stunde am Reformationstag für Fragen freigeschaltet.
Gewandet ist er unhistorisch in den nachmals konfektionierten Talar der evangelischen Geistlichen, von sich gibt er Sätze in staatstragender heutiger, also blutleerer, euphemistischer Politikersprache, und im Vorfeld wurde der kontroverse Teil seiner überlieferten Schriften schon mal wegretuschiert, also zensiert, um dem Diktat der "politischen Korrektheit" zu genügen. Da der Avatar ja in Dialog mit Menschen treten sollte, durfte er sich nicht unbotmäßig äußern. Daß Luthers Sprache heftig, kräftig, bissig und böse war, wird unterschlagen. Dem reformatischen Anliegen und der Gewinnung von Mitgliedernachwuchs wird solcher Konformismus gewiß nicht dienen.
Beruf: Selbstermächtigung und digitales Panoptikum
Im Berufsleben zeigt sich die Zweischneidigkeit der digitalen Selbstprofilierung sehr deutlich, als "Freiheitsflug oder elektronische Fußfessel", wie Prof. Dr. Martin Schneider, Universität Paderborn, Personalwirtschaft, provokant titelte und sich nicht scheute, in diesem Zusammenhang auch auf Foucaults düstere Machttheorie (und darin Benthams berüchtigtes Panoptikum) Bezug zu nehmen. Als Eindämmungsversuch dieses Überwachungs- und Disziplinierungskartells konnte er nur eine "kluge Konfiguration der (digitalen) Eigentumsrechte" empfehlen - was offensichtlich ein hohes Maß an digitaler Selbstbestimmung und Aufklärung voraussetzt.
Im Arbeitsalltag kann KI sehr bald als neuer Arbeitskollege auftauchen, "Geliebt, gehasst, geduldet?", wie Prof. Dr. Gregor Engels, Universität Paderborn, Datenbank- und Informationssysteme, vermutete. Als Informatiker kannte er die Datenflüsse in Unternehmen, das "Talent-Management" und ihre Auswirkungen auf die Beschäftigten genau, konnte zur humanen Gestaltung auch nur ein "wertebasiertes Computing" empfehlen.
Tod und Nachwelt
Am Ende des menschlichen Lebens steht unvermeidlich der Tod, und auch dafür hat das digitale Universum eine Lösung, zumindest eine konservatorisch-archivarische, selbst wenn man nicht an die von kalifornischer Hybris propagierte virtuelle Unsterblichkeit glauben sollte. Felix Holtermann, Handelsblatt, konnte jedenfalls berichten, "Wie ich durch KI versuchte, unsterblich zu werden?" Es fängt eher harmlos und plausibel an, mit der Erfassung der audiovisuellen Gestalt und dem intellektuell-diskursiven Archivbestand des Betreffenden.
Daraus läßt sich, mit entsprechendem finanziellen Aufwand, durchaus ein tauglicher, auskunftsfähiger Avatar basteln, der den Verblichenen in die Zukunft trägt - oder vielmehr der Willkür der Nachwelt überantwortet, die ja eine solche "Persona" nach Belieben zu (re-)konfigurieren vermag. Wie man Luther posthum domestiziert hat, wurde bereits erwähnt, und wie zensorisch man mittlerweile gegen ältere Bücher, gerade auch Kinderbücher, vorgeht, ist wöchentlich Gegenstand von Kulturnachrichten. Was sollte jemand von freier Denkungsart einer Zukunft mitteilen können, wollen oder dürfen, die stets nur sich selbst gelten lassen will?
Und es braucht nicht einmal weltanschaulich motivierte Eingriffe und Übergriffe einschlägiger Instanzen, um die digitale Persona auf Linie zu bringen. Die großen Sprachmodelle, auf deren Dialogfähigkeit man hier wird zurückgreifen müssen, haben Zensur bekanntermaßen bereits eingebaut, liefern sozusagen immer auch "ethics by design". So entkommt der Verblichene auch nach seinem Tode nicht der formierenden Gewalt der Gesellschaft, die nur zu ihren, nicht zu seinen Bedingungen als seine Nachwelt auftreten wird.